Die Geschichte des Völkerrechts wurde in der Vergangenheit als eine überwiegend europäische Geschichte und als Teil der Geschichte der europäischen Expansion erzählt: Im ius gentium europaeum der christlich-europäischen Staatenfamilie haben sich seit dem 17. Jahrhundert die prinzipiell gleichberechtigten Staaten Europas zwischenstaatlichen Normen unterworfen – dem Gesandtschaftsrecht, dem Recht zum Krieg, dem Recht im Krieg, dem Recht der Staatsverträge und anderen. Ein solches Völkerrecht blieb aber zunächst ohne Geltung für die Völker Asiens oder Afrikas außerhalb der „Alten Welt“ und Neu-Europas in der „Neuen Welt“.
Seit rund zwei Jahrzehnten verfolgen Forscherinnen und Forscher ein großes neues Projekt: Die eurozentrische Erzählung soll einer globalen völkerrechtlichen Forschungsperspektive auf die Geschichte der internationalen Beziehungen weichen, die die friedlichen oder gewaltsamen Verflechtungen – auch durch Imperialismus und Kolonialismus – zwischen Staaten auf allen Kontinenten in den Blick nimmt. Neben den historischen Dimensionen des europäischen Völkerrechts sollen alternative Ordnungsmodelle für die Regelung der Beziehungen zwischen Staaten außerhalb der europäischen Welt dargestellt werden. Da das Völkerrecht im Laufe der Jahrhunderte durch die Praxis der souveränen Staaten im Umgang miteinander geschaffen wurde, werden die Normen des Völkerrechts in der neueren Forschung auch als „laws of encounter“ zwischen verschiedenen Herrschaftsverbänden, aber auch zwischen Kulturen analysiert.
Zwar ist unbestritten, dass die ältesten internationalen Bündnisverträge zwischen ägyptischen und vorderasiatischen Herrschern geschlossen wurden. Doch die Rolle afrikanischer Staaten wurde in der Geschichte des Völkerrechts kaum je beachtet. Ein Blick in die Forschungsliteratur zeigt: Das Stichwort Afrika verweist bisher meist auf Analysen der kolonialen Landnahme in der Phase des europäischen Hochimperialismus ab den 1880er-Jahren oder auf Fragen der Staatennachfolge und der Beibehaltung der bisherigen Kolonialgrenzen durch die unabhängig gewordenen Staaten Afrikas seit den 1950er-Jahren (Uti-possidetis-Prinzip). In dieser völkerrechtlichen Perspektive auf Afrika ist die Dominanz des europäischen Kolonialismus offenkundig. Relevanz haben einzig jene Themenfelder, die Afrika mit der Geschichte des ius gentium europaeum verbinden. Viele Themen, Fragen, Ideen, ja auch Regionen im historischen Afrika kommen in dieser Perspektive nicht vor – allein schon, weil europäische Akteure fehlen.
Der Frage, ob es in Afrika überhaupt eine Geschichte mehrerer staatlicher, also internationaler Akteure jenseits des europäischen Kolonialismus gegeben habe, sei die Perspektive des nigerianischen Historikers Jacob Ade Ajayi entgegengestellt, der 1969 den Kolonialismus als „eine Episode in der afrikanischen Geschichte“ bezeichnete. Er forderte die Forschung auf, auch andere, frühere wie spätere, Episoden in den Blick zu nehmen und nach Kontinuitäten zu fragen. So könne das Verständnis der Geschichte Afrikas vervollständigt und die Handlungsmacht afrikanischer Akteure analysiert werden. Dass es im vorkolonialen Afrika unzweifelhaft Gemeinwesen mit zentralisierten Institutionen, Steuer- und Tributpflichten, Armeen und sozialer Differenzierung, also Staaten, gegeben hat, daran erinnerten mitunter schon die frühen postkolonialen Eliten mit ihrer Namenswahl für die nun unabhängigen Staaten Afrikas: Benin, Ghana, Mali oder Simbabwe verweisen auf Reiche, die, teils Jahrhunderte zuvor, Territorien (in der Nähe) der heutigen Staaten dominierten.
Zwar war Afrika bis ins 20. Jahrhundert ein dünn besiedelter Kontinent (rund 100 Millionen Menschen um 1700, kaum 10 Prozent der Weltbevölkerung), und es gab Regionen, in denen sich die Bevölkerung weitgehend ohne Zentralinstitutionen organisierte. Doch aus archäologischen, schriftlichen und anderen Quellen ist die Existenz einer Vielzahl von Staaten überliefert: Mali, Songhai, die Akan- und Hausa-Staaten, Yoruba, Kanem-Bornu, Darfur, Alodia, Äthiopien, Sultanat Ifat, die Hima-Staaten oder Kongo. Manche, wie Nubien oder Aksum (im heutigen Äthiopien), reichten noch in die römische Antike zurück, andere, wie Benin, wurden erst im späten 19. Jahrhundert von europäischen Kolonialarmeen um ihre Unabhängigkeit gebracht. Aufgrund der großen Entfernungen war ein direkter Kontakt zwischen afrikanischen Staaten, etwa über Händler oder Botschafter nicht immer möglich; wenn auch zum Beispiel zwischen dem Sultanat Marokko und der Stadt Timbuktu in Mali durch Karawanenhändler gewaltige Distanzen überbrückt wurden. Aber über – um einen heutigen Begriff zu gebrauchen – internationale Beziehungen und deren (institutionelle) Regelungen zwischen Staaten Afrikas kann schon deshalb wenig bekannt sein, weil aussagekräftige Quellen aus vorkolonialer Zeit oft fehlen. Forscherinnen und Forscher, die sich für solche Institutionen in Afrika interessieren, stehen vor dem Problem, dass es außer amharischen, in Ge’ez, der äthiopischen Kirchensprache, verfassten, koptischen und arabischen Texten nur sehr wenige von Afrikanern verfasste Dokumente gibt, die Auskunft über die Vergangenheit des Kontinents vor der Ankunft arabischer und später europäischer Reisender und Eroberer geben könnten. Auch alternative Quellen, etwa archäologische, stehen kaum zur Verfügung.
Ein weiteres Problem ergibt sich aus dem Verhältnis von Quellen- zu Forschungssprachen. Wie können Forscherinnen und Forscher, die überwiegend in europäischen Sprachen (das Englische ist auch hier dominant) arbeiten, die von ihnen analysierten afrikanischen Institutionen beschreiben? Welche Gemeinwesen in Afrikas Geschichte sind tatsächlich als „Staaten“ zu bezeichnen? Hatten sie „Grenzen“ im Sinne des europäischen Völkerrechts? Kann man überhaupt von einem Völkerrecht in der Vergangenheit Afrikas sprechen? War der Herrscher von Benin, der Oba, ein „König“? War der ንጉሠ ነገሥት (nəgusä nägäst), über Jahrhunderte Äthiopiens „König der Könige“, der „Kaiser von Äthiopien“? Oder erweckt ein solcher europäischer Terminus falsche Assoziationen, was die Erbfolge und die Zentralität der Herrschaftsausübung angeht? Können (oder müssen) europäische juristische Terminologien und Analysekategorien, die sowohl von Rechtswissenschaftler*innen wie Historiker*innen gebraucht werden, ersetzt werden durch die Originalbegriffe in afrikanischen Sprachen (so diese bekannt sind), um Begriffsanachronismen und linguistischen Imperialismus zu vermeiden? Allgemeine Antworten sind hier kaum zu geben, Lösungen müssen eher für den Einzelfall gefunden werden.
Über die Beziehungen zwischen vorkolonialen Staaten in Afrika ist recht wenig bekannt. Es existieren aber Quellen nicht nur zu den afroeuropäischen, sondern auch zu den teils Jahrtausende zurückreichenden afroasiatischen Beziehungen in Ostafrika und den dort gebräuchlichen Regelungsformen dieser Beziehungen. Wenn es eine Forderung an die gegenwärtige Völkerrechtsgeschichte ist, neue außereuropäische Regionen und Kontakte zwischen Völkern („Internationalität“) für die Forschung zu erschließen, dann können abschließend zwei konkrete Beispiele zeigen, wie Völkerrechtsgeschichte durch den Blick auf eine Region Afrikas globaler werden kann.
Die Meerenge am südlichen Ende des Roten Meers (Bab al-Mandab) war eine historisch wichtige Brücke für den Kontakt zwischen Staaten, Sprachen, Religionen, die um Einfluss in der wirtschaftlich prosperierenden Region rangen. An diesem politischen und wirtschaftlichen Kreuzungspunkt finden sich frühe Beispiele für Allianzen oder Koalitionen, die zwischen den Herrschern von Saba und dem aksumitischen Reich in (modern gesprochen) Verträgen vereinbart wurden. Solche regelmäßigen „diplomatischen Beziehungen“ zwischen beiden Seiten des Roten Meers schlossen militärische Konflikte nicht aus. So versuchte das aksumitische Reich ab dem 4. Jahrhundert unserer Zeitrechnung, Südarabien militärisch und wirtschaftlich zu dominieren, und König Ezana dehnte schließlich seinen Herrschaftsbereich als „König der Sabäer“ über Afrika hinaus aus. Grenzen wurden vereinbart, Kriege wurden erklärt und feierlich beendet. Selbst Hinweise auf einen frühen internationalen „Friedenskongress“ im Jahr 547 finden sich, an dem nicht nur äthiopische und arabische Gesandte teilnahmen, sondern auch solche aus Byzanz und Persien.
Das zweite Beispiel stammt aus den Hochzeiten des Imperialismus: Die Herrscher Äthiopiens unterhielten nicht nur mit ihren unmittelbaren Nachbarn engen Kontakt, sondern waren auch stets mit Europa in Verbindung geblieben. Im 18. und 19. Jahrhundert schlossen europäische Mächte hunderte Handels- und Freundschaftsverträge mit afrikanischen Autoritäten ab. Seit den 1870er- und -80er-Jahren tauchte in neu abgeschlossenen Verträgen vermehrt der Begriff „Schutz“/protection auf, der den indigenen Gesellschaften durch die Europäer versprochen wurde. Diese verstanden die vertragliche Annahme dieses „Schutzes“ so, dass die „schutzsuchenden“ Afrikaner damit ihre Unabhängigkeit aufgaben. Eine andere Vertragsformulierung war die Erklärung, dass der afrikanische Herrscher sich für die Beziehungen zum Ausland der Hilfe seines europäischen Vertragspartners bedienen müsse. Äthiopien schloss 1889 einen solchen Vertrag mit Italien ab, der sich sonst weitgehend nach europäischen Vertragskonventionen richtete. Doch in der amharischen Vertragsversion war, anders als in der italienischen, die Klausel über die Auslandsbeziehungen eine Kannbestimmung. Der „König der Könige“ Menelik II. bestand auf seiner Lesart des Vertrags und widerrief ihn, als die Italiener ihm die Unabhängigkeit absprachen – wovon er die Monarchen Europas in Kenntnis setzte. Auch aufgrund des gemeinsamen Christentums sah sich der „König der Könige“ gegenüber seinen europäischen „Brüdern“ als Gleicher unter Gleichen. So trat Äthiopien der Brüsseler Generalakte (1890), die Bestimmungen der Kolonialmächte mit Bezug auf Afrika enthielt (Bekämpfung des Sklavenhandels und Regelungen zum Alkoholhandel), noch im gleichen Jahr bei. Als die Italiener ihr vermeintliches Protektorat mit Gewalt zum Gehorsam zwingen wollten, gelang es Menelik 1896 durch seinen Sieg in der Schlacht von Adwa, die Unabhängigkeit Äthiopiens zu bewahren. Im äthiopisch-italienischen Friedensvertrag wurde die staatliche Souveränität Äthiopiens ausdrücklich anerkannt. In der Folge schlossen die benachbarten Kolonialmächte Großbritannien, Frankreich und Italien mit Äthiopien Grenzverträge ab und eröffneten, wie auch die USA, Russland und das Deutsche Reich, in Addis Abeba diplomatische Vertretungen. Als einziger Staat Afrikas hatte Äthiopien seine Unabhängigkeit verteidigen können (Liberia war gleichfalls unabhängig, stand aber unter dem Schutz der USA). So wurde der Sieg über die Italiener zu Äthiopiens Eintrittskarte in die Familie der (so der Begriff in der zeitgenössischen Völkerrechtsliteratur) „zivilisierten Nationen“. Der wesentliche Standard für „Zivilisation“ war Macht– militärische Macht, wie kaum zehn Jahre später auch Japan nach seinem Sieg über Russland erlebte. Diese zwei Siege nicht europäischer Staaten gegen Europäer relativierten die „Zivilisierungsmission“ Europas in der Welt. Der völkerrechtliche Umgang mit dem (fortan meist sogenannten) Kaiserreich Äthiopien zeigte, dass es für europäische Staaten trotz allen Überlegenheitsdünkels denkbar und tatsächlich möglich war, auch einen afrikanischen Staat in die bisher auf Alt- und Neu-Europa beschränkte „Völkerrechtsfamilie“ aufzunehmen und eine – wenngleich unter die Bedingung von Reformen nach europäischem Vorbild gestellte – afrikanische Souveränität anzuerkennen.
Die Beispiele zeigen, dass ein genauerer Blick gewohnte Vorstellungen über die historische Völkerrechtspraxis der europäischen Kolonialmächte infrage stellen oder zumindest ergänzen kann. Erkennbar wird, dass es auch auf afrikanischer Seite Akteure, Interessen und Kompetenzen gegeben hat, internationale Vereinbarungen zum eigenen Nutzen zu gestalten und auszulegen und damit einer Ungleichbehandlung Widerstand entgegenzusetzen. Indem die Forschung zur Geschichte des Völkerrechts eine solche Perspektive auf den afrikanischen Kontinent weiterverfolgt, trägt sie auf ihrem Feld zu einer Provinzialisierung Europas bei. Der Blick wird frei für alternative Handlungsmöglichkeiten und Institutionen. Die europäische Geschichte des Völkerrechts ist dann nur noch eine unter mehreren; sie ist nicht mehr selbstverständlich und schon gar nicht natürlich.
This article was first published in: “Afrika. Potenziale, Probleme, Perspektiven eines Kontinents”. WZB-Mitteilungen Nr. 169 (09/2020), pp. 15-17. It is available here.